Ausbildungskurs Wasserfallklettern

29./30. Januar und 5./6. Februar 2000 in Silvaplana
Leitung: Sabine Fröhlich und Jens Michaelis, DAV Konstanz

 

Wasserfallklettern - Bist Du verrückt?

Wasserfallklettern? Sofort springt mir das Bild eines Robert Jasper vor Augen, der sich gewandt zwischen Zapfen, Fels und dem schieren Nichts bewegt. Auch Visionen von den schottischen Highlands habe ich. An umnebelten und windumtosten Felsen, die mit dünnster Eisglasur überzogen und denkbar schlecht abzusichern sind, sehe ich ein paar unverwüstliche Eiskletterer sich vergnügen. Ich erinnere mich aber auch viel bescheidener an beeindruckende Eisflanken, die ich bei vergangenen Touren mit Faszination und Schrecken zugleich passierte. Ob ich so etwas auch mal klettern könnte? Wenn ich ganz ehrlich bin, wäre mir auch schon geholfen, wenn ich bei so mancher Gletschertour die steileren Aufschwünge mit mehr Sicherheit überwinden könnte. Letztlich bin ich auch einfach zweckfrei neugierig. Was verbirgt sich hinter diesem mittlerweile so in Mode gekommenen Sport "Wasserfallklettern"?

Die Motivation der sieben Teilnehmer und Teilnehmerinnen Bea, Klaus, Stephan, Thomas, Uli, Uta und Uwe ist vielfältig. Genauso vielfältig gestalten Sabine Fröhlich und Jens Michaelis den Ausbildungskurs Wasserfallklettern des DAV, Sektion Konstanz. Der Kurs ist begehrt, denn Eisklettern ist - im Unterschied zum Felsklettern an gut abgesicherten Routen - kein Sport, den man mal schnell ausprobieren kann. Es bedarf zunächst eines sehr großen und kostspieligen Materialaufwandes. Am wichtigsten sind "bissige" Eisschrauben, Eisgeräte, und Steigeisen. Dazu kommen Schalenschuhe, Gore-Tex Kleidung, gute Fingerhandschuhe, sonstige Details, und natürlich fast alles, was man sonst zum alpinen Felsklettern braucht. Eine gute Ausrüstung reduziert bereits die Gefahren. Noch wichtiger sind allerdings fundierte Kenntnisse über Eis- und Lawinenkunde, Sicherungstechnik, Materialkunde, und Eisklettertechnik. Nicht zuletzt sind gute Eisbedingungen an leichteren Fällen nicht selbstverständlich. Sicherheit und damit auch der Spaß kommen aber erst mit Übung, und zwar mit viel Übung!

Samstag, 29. Januar - Klettertechnik

Sabine und Jens treffen eine umsichtige Auswahl des Kursgebietes. In einer Schlucht hinter Silvaplana (ca. 1970 m) stehen einige leichtere und kürzere Fälle. Die Schlucht ist weitgehend frei von objektiven Gefahren (v.a. keine Lawinen und kaum Eisschlag). Als weiterer Vorteil erweist sich, dass die Fälle sehr hoch liegen und dadurch weniger anfällig für Wärmeeinbrüche sind.

Nach Wiederholung der Sicherungstechnik geht es sogleich zur Sache. Jeder darf eine im Toprope gesicherte Tour nachsteigen. Da wird gehackt, gekratzt und gezerrt. Jedenfalls sieht es eher nach harter Arbeit im Steinbruch als nach graziösem Klettern am Wasserfall aus. Komisch, waren doch Sabine und Jens einfach so hochgeturnt? Wie das spröde Eis bröckeln auch meine Visionen von der mühelosen Ästhetik des Eiskletterns. Es hilft nichts, Techniktraining ist angesagt.

Bei der Frontalzacken-Technik werden die Steigeisen senkrecht zur Eisoberfläche eingeschlagen, dann die Ferse leicht nach unten gedrückt, die Fußflächen sind parallel, die Beine mindestens hüftbreit auseinander, was Stabilität verleiht. Zusätzlich werden wie beim Felsklettern vorhandene Strukturen als Tritte ausgenutzt. Das ganze üben wir ohne Eisgeräte querend knapp über dem Boden. Wie beim Felsklettern kommt es auch beim Eisklettern entscheidend auf eine gute Fußtechnik, also auf stabiles, kraftsparendes Stehen an. Wir erproben unsere Fortschritte, indem wir anschließend die eingerichteten Touren ohne(!) Eisgeräte hochklettern - und es geht besser als mit den Geräten! Vielleicht sind uns die erforderlichen Bewegungsmuster vom Felsklettern vertrauter?

Danach üben wir das Schlagen. Es ist darauf zu achten, dass aus dem Ellbogen heraus geschlagen wird, nicht aus der Schulter. Kurz bevor die Haue in das Eis trifft, ist die Hand zu stabilisieren. Trotz hoher Konzentration will mir das Schlagen mit der "schwachen" Hand nicht so recht gelingen. Ungefähr so, als müsste ich mit links einen Nagel in die Wand befördern. Mit viel Übung, so versichern uns Sabine und Jens, kann man das Schlagen dann doch lernen. Also üben wir - zum Schluss alles in Kombination: pick, pick, tock, tock, tock, pick, pick, tock, tock, tock, knirsch. Eisklettern hat viel mit Rhythmus zu tun, versichert uns Jens.

Eigentlich fühle ich mich am Abend ziemlich ausgelastet. Aber im Gepäck befinden sich ja noch die Kletterfinken, deren Mitnahme Sabine und Jens uns so nahegelegt hatten. Tatsächlich locken die beiden uns noch in den tollen Boulderraum unserer Unterkunft "Albergo Stampa" in Casaccia. Wer bis dahin noch keine dicken Unterarme oder Wadenverspannungen hat, der kriegt sie spätestens jetzt. Zum Glück bekocht uns Klaus zum Abendessen mit leckeren Älplermakkaroni.

Sonntag, 30. Januar - Sicherungsmittel

Am folgenden Tag begrüßt uns gar garstiges Wetter: Schneeregen in Casaccia, Schneefall auf dem Malojapass, Kettenpflicht. Kein Wetter zum draußen sein, eigentlich. Und dann haben wir so einen Spaß. Da es nicht kalt ist, stört der Schneefall kaum. Nass wird man eh beim Eisklettern.

Zunächst diskutieren wir Sicherungsmittel im Eis. Am wichtigsten natürlich ist die Eisschraube.Verschiedenste Sorten Eisschrauben werden verglichen bezüglich Material, Verarbeitung, Beschaffenheit, Stabilität und natürlich Biss. Am besten sind Stahlschrauben, die Länge sollte mindestens 17cm betragen. Nette Hilfsmittel wie kleine Kurbeln zum Eindrehen der Schrauben begeistern uns sofort. Bei den Eisschrauben haben wir schnell unsere (teuren) Favoriten definiert.

Eisschrauben setzt man in Mulden, nicht auf Kuppen, und möglichst nicht dort, wo man mit den Geräten das Eis bereits verletzt hat. Die Schraube wird möglichst ganz eingedreht, die Lasche zeigt auf "3 Uhr" oder "9 Uhr". Derzeit laufen Versuche über den besten Setzwinkel von Eisschrauben (vgl. "Alpin" 2/2000). Entgegen der klassischen Lehrmeinung wurde gemessen, dass in festem Eis die Haltekräfte der Schrauben am größten sind, wenn die Eisschrauben nach unten geneigt eingedreht werden, also mit einem Winkel von weniger als 90 Grad zur Falllinie. Die Messungen gelten aber nur für kaltes Eis und beziehen sich auf Schrauben mit einem stabilen, groß dimensionierten Gewinde. Als guten Mittelwert merke man sich vorläufig einen Setzwinkel von 90 Grad. Schrauben dürfen nicht über längere Zeit belastet werden, da sonst die Gefahr der Druckausschmelzung besteht. Diese Gefahr ist bei der Eissanduhr (Abalakow) geringer. Das Bohren einer solchen (Merke: 60 Grad, ca. 10 cm Abstand der Schrauben!) gehört auch bei uns dazu; der anschließende Festigkeitstest ist frappierend.

Mit einem gestiegenen Vertrauen in die mittlerweile von Jens eingerichteten Topropes wagen wir uns nach dem Theorieteil in bereits ansehnlich steile Routen.

Und prompt: Wie in steilen Felstouren kann auch beim Eisklettern "die Tür aufgehen", also Schwerpunkt unter das Gerät. Gleichfalls analog zum Felsklettern ist der erhöhte Kraftaufwand im steileren Gelände. Jedenfalls musste ich bereits ordentlich an den Eisgeräten ziehen, weswegen ich nachhaltig von intensivem Bouldern am Vorabend abrate. Als Anfänger traut man ja den Geräten nicht, aber wer den Bericht im "Panorama" (1/2000) gelesen hat, wird wissen, wieviel gut gesetzte Geräte halten. Wichtig ist im steileren Gelände weiterhin das Klettern "am langen Arm". Das spart Kraft und man kommt schneller vorwärts. Wenn nur dieser linke Arm nicht so ungeschickt wäre.

Selbst am späten Nachmittag sind immer noch alle erstaunlich fleißig und kletterbegierig. Es gibt noch genügend Potential für das zweite Kurswochenende.

Samstag, 5. Februar - Vorstieg

Nach der ursprünglichen Planung soll Teil 2 des Kurses am Urnerboden stattfinden. Dafür ist es allerdings zu warm, so dass wir erneut in das hochgelegene Silvaplana fahren, was uns kaum stört. Das Eis ist auch dort durch den Wärmeeinbruch butterweich geworden und verzeiht so manchen Fehler (oder liegt es an unseren immensen Fortschritten?). Nur wessen Handschuhe nicht einigermaßen dicht sind, ist weniger glücklich über die heutige Form des Wasser(!)fallkletterns.

An diesem Wochenende arbeiten wir auf den Vorstieg hin.Wir lernen, wie man ein Toprope einrichtet, wie man Eisschrauben aus der Kletterstellung platziert und - als wichtigstes Element - wie im Eis ein Standplatz gebaut wird.

Der Abstand der beiden Standschrauben ist vertikal idealerweise mindestens 90 cm, horizontal ca. 10 cm. Dann folgt der übliche Aufbau eines Kräftedreiecks. Der Sichernde macht sich zwar im Zentralpunkt fest, belastet diesen jedoch nicht wegen der möglichen Druckausschmelzung. Im steilen Gelände hängt sich der Sichernde zusätzlich beispielsweise in eines der sicher platzierten Eisgeräte. Ein weiterer Unterschied zum Felsklettern ist, dass man nur den Nachsteiger im Zentralpunkt sichert, den Vorsteiger jedoch am Körper. Man muss dazu wissen, dass beim Eisklettern ein Sturz absolut Tabu ist. Es braucht wenig Fantasie, sich die möglichen Verletzungsgefahren auszumalen. Man klettert immer deutlich unter der Leistungsgrenze, jederzeit so, dass man noch Kraft hat, eine Schraube zu setzen. (Übrigens ein entscheidender Vorteil zum Felsklettern, wo mögliche Sicherungspunke oft selten sind.) Da die Qualität der Sicherungspunkte im Eis oft schlecht ist, muss ein Sturz unbedingt dynamisch gehalten, also langsam blockiert werden. Nur dadurch kann der Fangstoß auf Zwischen- und Standplatzsicherung reduziert werden. Die Sicherung am Körper unterstützt dieses langsame Abbremsen.

Als Vorübung zum Vorstieg setzen wir (immer noch im Toprope) Eisschrauben aus der Kletterstellung - eine kraftraubende Aktivität. Weiterhin achten wir darauf, jedes der Geräte jederzeit absolut sicher zu platzieren, was im Vorstieg essentiell ist. Mittlerweile sind durch unsere Übungen die Touren bis oben "südfranzösisch" mit Schrauben ausgestattet und der erste zieht mutig das Toprope ab. Wer will, darf (pinkpoint) vorsteigen und alle wollen. Im leichteren kürzeren Teil gibt es wenig Probleme. Im steileren und längeren Teil ist man mehr gefordert. Die Seile haben sich mittlerweile so voll Wasser gesogen, dass das Einhängen in die Zwischensicherungen einen enormen Kraftaufwand bedarf. Dann das Gefummel mit den Handschuhen, mit denen das Klinken viel schwieriger ist.

Es gibt da doch einige störende Details, die, so versichern uns Sabine und Jens erneut, mit viel Übung in Griff zu kriegen sind. Ich nehme es zur Kenntnis und überlege heimlich, ob das Outdoor-Budget für dieses Jahr nicht doch noch die Anschaffung von anständigen Handschuhen erlaubt.

Es ist bereits ziemlich dunkel, als wir uns wohlverdient eine Pizza in Silvaplana gönnen. Heute verzichten wir auf den Boulderraum.

Sonntag, 6. Februar - Seilschaft

Strahlender Sonnenschein am nächsten Morgen - und wir gehen in die schattige Schlucht. Verrückt halt ... Heute simulieren wir an einem flachen Stück Klettern in einer Seilschaft. Vorsteigen, Standplatz bauen, Nachsichern, Materialübergabe, Vorsteigen, Standplatz bauen etc. Was am Tag zuvor in der Theorie so logisch und einfach erschien, erweist sich in der Praxis als kniffliges Unterfangen: die Schlinge zu kurz, das Abknoten vergessen, die Schrauben zu weit auseinander, der letzte Schrauber schon verbraucht, die Selbstsicherung doch an der falschen Stelle, Mastwurf mit Handschuhen auf und zu und hin und her. Die Wadenmuskeln machen sich bereits schmerzhaft bemerkbar, also doch eine Stufe schlagen ... Sabine und Jens schauen sehr aufmerksam zu und kritisieren jeden von uns ganz gezielt, was wichtig ist, denn schließlich wird später am Standplatz unser Leben hängen.

Dann will jeder los ins Eis. Jens hat zwei stellenweise recht steile 50m lange Topropes eingehängt. Was letzte Woche noch unmachbar schien, klappt bei manchen gleich im ersten Anlauf. Bessere Technik und einfacheres Eis machen den Unterschied. Die Tür geht nicht mehr so oft auf, der Schlag sitzt besser, das Klettern am langen Arm funktioniert und, in der Tat, man kann sich auch mal am Eisgerät ausruhen, es hält. Getrübt wird unser Kletterspaß nur von einem Bergführer mit zwei Klienten, die sich in unsere Tour drängeln und uns dabei im Schnelldurchlauf alle Fehler vorführen, die man beim Eisklettern auf keinen Fall begehen darf. Leider bringt die Gruppe nicht nur sich selbst, sondern auch uns in Gefahr, sodass wir aus unserer Tour aussteigen. Wir lernen schnell, dass aus Sicherheitsgründen beim Eisklettern ein defensives Verhalten angebracht ist. Auch wenn wir maßlos verärgert sind.

Ein Stück unterhalb können wir nochmal ein kurzes, gut abgesichertes Stück vorsteigen. Ganz mutig sind nur Stephan und Uli, die einen kompletten Rotpunkt-Vorstieg mit zwei halben Seillängen durchführen - in einer bereits anständig steilen Tour. Sabine überwacht den Standplatzbau nach der ersten Seillänge und gibt ihr O.k. für die zweite Seillänge. Nach anfänglich üppigem Setzen der Schrauben, muss Stephan bald feststellen, dass ihm im flacheren Stück die Schrauben auszugehen drohen. Eine sicher realistische Erfahrung, die er souverän meistert. Es dämmert bereits, als wir uns von der Schlucht verabschieden. Gerne hätten wir noch mehr geübt, denn langsam macht es richtig Spaß.

Wasserfallklettern - Sind wir verrückt?

Der Kurs Wasserfallklettern bot zwei sehr intensive, spannende und lehrreiche Wochenenden. Eisklettern hat für mich viel an Reiz gewonnen, seine "schreckliche" Faszination allerdings immer noch ein wenig bewahrt. Herzlichen Dank an Sabine und Jens, die uns mit viel Enthusiasmus, dennoch behutsam, und vor allem mit fundierter Sachkenntnis ins Eisklettern einführten. Ob jemand vom Eisklettervirus befallen wurde, wird sich zeigen. Wir alle wollen es aber sicher bald wieder ausprobieren. Nicht für jeden reichen zwei Übungswochenenden aus, um sich vollkommen selbständig an die Wasserfälle zu wagen - ganz abgesehen von der nicht vorhandenen Ausrüstung. Wir würden es deswegen begrüßen, wenn zum Beispiel Aufbaukurse oder vermehrt Eiskletter-Wochenenden für weniger Erfahrene angeboten würden. Der Bedarf ist sicher speziell bei den jüngeren Mitgliedern des Alpenvereins groß und das DAV-Programm würde an Attraktivität gewinnen.

Und das nächste Mal gehen wir dann nicht mehr eisklettern, sondern richtig Eis klettern.

 

© 28.09.2003 by Uta Schwertel < >